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Armut nicht nur eine Frage von Hartz IV

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Gütersloh – In mehr als jeder zweiten größeren Stadt erhöhen die Mietpreise das Armutsrisiko von Kindern. Vielerorts herrscht ein erheblicher Mangel an Wohnungen, die für Familien geeignet und auch bei niedrigem Einkommen erschwinglich sind. Kinder wachsen daher längst nicht nur dann in armen Verhältnissen auf, wenn ihre Familie staatliche Grundsicherung bezieht. Eine aktuelle Studie der empirica AG im Auftrag der Bertelsmann Stiftung belegt: Wer als Familie weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens verdient, hat in 60 der 100 größten deutschen Städte nach Abzug der Miete im Durchschnitt weniger Geld zur Verfügung als eine Hartz-IV-Familie. "Familien aus der unteren Mittelschicht und oberen Unterschicht geraten in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt finanziell stark unter Druck. Armut muss in Deutschland stärker regional erfasst und bekämpft werden", sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Wer ist in Deutschland eigentlich arm? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil bislang alle Armutsdefinitionen zu mehr oder weniger starken Verzerrungen führen. Das liegt zum einen daran, dass eine bundesweit einheitliche Armutsgrenze regionale Unterschiede der Lebenshaltungskosten außer Acht lässt – ein Einkommen von 2.000 Euro ist etwa in Zwickau ungleich mehr wert als in Hamburg. Zum anderen hat auch die übliche relative Definition von Armut ausschließlich anhand der regionalen Durchschnittseinkommen nur eingeschränkte Aussagekraft: Wer in einer sehr wohlhabenden Stadt weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verdient, ist sicherlich im Vergleich weniger wohlhabend, aber nicht notwendigerweise arm. Die Bertelsmann Stiftung verfolgt in der vorliegenden Studie deshalb einen neuen Ansatz: Sie berechnet für die 100 größten deutschen Städte, was eine nach regionalen Maßstäben einkommensschwache vierköpfige Familie monatlich ausgeben kann, nachdem sie die Kosten für das mit Abstand teuerste Konsumgut beglichen hat – das Wohnen.

Die Ergebnisse der Studie zeigen zum Teil drastische Auswirkungen des Wohnungsmarkts auf das Budget von Familien, die weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens erzielen: In Jena bleiben einer Familie mit zwei Kindern nach Überweisung der Miete rechnerisch nur 666 Euro pro Monat. Das verfügbare Einkommen liegt demnach 43 Prozent unter der staatlichen Grundsicherung, auf die eine vergleichbare Familie ohne Erwerbseinkommen Anspruch hat und die bundesweit einheitlich 1.169 Euro beträgt. Ähnliche Auswirkungen haben die hohen Wohnkosten in Frankfurt/Main, Freiburg und Regensburg, wo einkommensschwache Familien nach Entrichtung der Miete durchschnittlich 37, 33 und 26 Prozent unter Hartz-IV-Niveau landen. „Armut beeinträchtigt das Aufwachsen von Kindern. Wir müssen vor Ort genauer hinschauen, welche Familien mit Kindern mehr Unterstützung für gute Bildungs- und Entwicklungschancen benötigen“, sagte Dräger.

Das regionale Einkommens- und Mietpreisniveau kann sich aber auch umgekehrt bemerkbar machen: In Heilbronn, wo relativ hohe Durchschnittseinkommen auf einen entspannteren Wohnungsmarkt treffen, hat eine Familie unter denselben Annahmen monatlich 1.941 Euro zur Verfügung, mithin 66 Prozent mehr als die staatliche Grundsicherung. Auch in Iserlohn, Witten und Bergisch-Gladbach sinkt durch günstigere Mieten das Armutsrisiko für Familien mit Kindern. Dort liegt das Budget von einkommensschwachen Familien nach Abzug der Wohnkosten 53, 48 und 45 Prozent oberhalb der staatlichen Grundsicherung.

Dementsprechend unterschiedlich hoch ist der Anteil der Wohnkosten am Familieneinkommen. In Frankfurt/Main, Jena, Freiburg und München geben einkommensschwache Familien durchschnittlich mindestens jeden zweiten Euro für die Miete aus. In Iserlohn und Witten hingegen bleiben 80 Prozent des Familieneinkommens für sonstige Lebensbereiche.

Möchte eine Familie maximal 30 Prozent ihres Einkommens – das ist der bundesweite Durchschnittswert – fürs Wohnen ausgeben, tendiert mancherorts das Angebot auf dem Wohnungsmarkt gegen null. In Frankfurt am Main, Offenbach, Freiburg, Konstanz, München, Potsdam und Jena können sich dann Familien mit niedrigen Einkommen von allen familiengeeigneten Angeboten nur jede hundertste Wohnung leisten. Anders in Hildesheim und Zwickau, wo sich mit 30 Prozent des Familieneinkommens mehr als 40 Prozent der angebotenen Wohnungen finanzieren lassen. Die Studie vermittelt auch einen Eindruck davon, wie der Wohnungsmarkt die soziale Spaltung einer Stadt verstärken kann. Denn in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt gibt es nur noch wenige Stadtteile, in denen einkommensschwache Familien eine nennenswerte Zahl von bezahlbaren Wohnungen finden.

Strukturdaten der Städte erlauben laut der Studie nur bedingt Rückschlüsse auf die Entwicklung des örtlichen Wohnungsmarkts. Die Wirtschaftskraft einer Stadt ist ebenso wenig allein ausschlaggebend für das Mietniveau wie das quantitative Angebot an Wohnungen, die von Größe und Zuschnitt für Familien geeignet sind. Am ehesten ist noch ein Zusammenhang zur demographischen Entwicklung festzustellen – in wachsenden Städten schrumpft tendenziell der Wohnungsmarkt im unteren Preissegment. "Der kommunale Wohnungsmarkt hat einen erheblichen Einfluss auf das Armutsrisiko von Kindern", sagte Dräger: "Neben wohnungsmarktpolitischen Entscheidungen bedarf es in erster Linie einer gezielten Förderung von benachteiligten Stadtvierteln, um armen Kindern bessere Entwicklungs- und Bildungschancen zu bieten."

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